Freitag, 29. Januar 2016

Abwehrmechanismen

Alle Abwehrmechanismen (alphabetisch)


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Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Richtlinientherapie, Abwehrmechanismen

Abwehrmechanismus: Wendung gegen das Selbst, gegen die eigene Person, Autoaggression

Wendung gegen das Selbst, gegen die eigene Person, Autoaggression (mittleres Integrationsniveau)


Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Wenn Aggression nicht nach außen, also auf die Person, die sie aktuell auslöst oder der sie in der Vergangenheit galt, entladen werden kann, so richtet sie sich nicht selten in autoaggressiver Weise nach innen. Die Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst wird durch ein strenges, rigides Über-Ich begünstigt: Die in der Gewissensinstanz verinnerlichten Normen verbieten die Äußerung aggressiver Impulse. Wenn sie dennoch aufkeimen, belegt sie das Über-Ich mit Schuld und fordert Bestrafung.

Funktion der Wendung gegen das Selbst

Die Wendung gegen das Selbst hat – wie alle Abwehrmechanismen – Vorteile. Aggressive Impulse können beziehungserhaltend – also existenziell wichtige Selbstobjekte schützend und sichernd – unschädlich gemacht werden. Auch das Über-Ich ist beschwichtigt: Der hasserfüllte Kampf gegen das böse Objekt findet nicht nach außen hin statt, wo er Schuldgefühle erzeugen würde. Als Variante von Autoaggression kann der Masochismus angesehen werden. Er geht mit einem eigentümlichen Lustgewinn einher, wenn der eigene Körper und/oder das eigene Selbst aggressiven Handlungen, Erniedrigungen und Kränkungen ausgeliefert werden. In sadomasochistischen Beziehungen werden nicht selten eine ungewöhnliche Nähe und Intensität erlebt. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass Paare, die sich auf ein sadomasochistisches Arrangement bewusst einlassen, zentrale, aber in den meisten Paarbeziehungen eher tabuisierte Dimensionen spielerisch ausleben können: Macht und Unterwerfung, Lust und Schmerz, Abhängigkeit, Scham und Schuld. Damit dieses "Spiel" nicht entgleist und einer der Partner oder beide beschädigt werden, müssen einvernehmliche Regeln vereinbart werden sowie fortwährend Reflexion und Kommunikation stattfinden.
Auch die religiös motivierte Autoaggression in Form von Selbstgeißelungen, v. a. die ritualisierte, an manchen Orten bei Prozessionen kollektiv und öffentlich zur Schau gestellte, lässt neben dem expliziten Ziel, Schuld zu tilgen, einen masochistischen und narzisstischen Lustgewinn vermuten.      

Dysfunktionalität der Wendung gegen das Selbst: 

Bei der Wendung gegen das Selbst entlädt sich der Hass nach innen, vorzugsweise gegen die Introjekte der bösen Aspekte geliebter Menschen. Das Selbst bestraft sich dabei gewissermaßen selbst. Klinisch kann sich der Abwehrmechanismus in vielfältiger Form zeigen: in subtiler Weise z. B. als Selbsteinschränkung und Selbstzweifel oder in massiver Weise z. B. als Selbstentwertung, Selbstbestrafung, Selbstsabotage, depressive Symptomatik, Somatisierung, Selbstverletzung oder Selbstmord. Die Wendung gegen das Selbst spielt u. a. bei ecclesiogenen Neurosen eine große Rolle. Häufig liegt ihnen eine einseitige Vermittlung biblischer Inhalte zugrunde, welche die zentrale christliche Liebes- und Erlösungsbotschaft an die Seite drängt oder deformiert und unerreichbare Ideale sowie Themen wie "Sünde", "Schuld", "Gottes Strafgericht" und "ewige Verdammnis" in den Vordergrund rückt.
Wenn oben bewussten Spielarten des Sadomasochismus innerhalb von Paarbeziehungen und in der Sexualität gesunde Funktionen, die sie unter günstigen Umständen haben können, zugestanden wurden, dann muss an dieser Stelle auch auf Risiken hingewiesen werden: Eine bestehende Beziehungspathologie kann durch die sadomasochistische Interaktion verstärkt oder überdeckt werden. Mitunter werden sadomasochistische Arrangements als unverbindliche und harmlose "Spielbeziehungen" angesehen; dabei wird geleugnet, dass das Experimentieren mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, mit Macht und Sichausliefern, mit Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung, mit Lust und Abhängigkeit usw. existenzielle Tiefenschichten der Seele berührt. Das kann zu vertiefter Selbst- und Beziehungserfahrung führen, aber auch zur Reaktivierung alter Traumen sowie zu Destabilisierung und Desintegration. Eine Form der Wendung von Aggression gegen das eigene Selbst kann darin bestehen, sich selbst – trotz besseren Wissens oder schlechter Erfahrungen – wiederholt nicht ausreichend zu schützen (was auch ein strukturelles Defizit sein könnte) und andere damit implizit zu verletzenden Grenzüberschreitungen einzuladen. 




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Abwehrmechanismus: Verschiebung

Verschiebung (mäßiges bis gutes Integrationsniveau)


Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Ein Impuls und/oder Affekt werden von einem Menschen oder Gegenstand auf einen anderen, ursprünglich weniger wichtigen und emotional weniger intensiv besetzten Menschen oder Gegenstand verschoben. Wenn z. B. die Aggression, die eigentlich einem stärkeren Menschen gilt, zu bedrohlich ist, kann sie gegen einen weniger gefährlichen Gegner gerichtet werden.

Funktion der Verschiebung: 

Verschiebung hat den Vorteil, dass ein als bedrohlich erlebter und daher ins Unbewusste verbannter Impuls oder Affekt in einer weniger bedrohlichen Form in Bewusstsein treten kann. Z. B. kann die existenzielle Angst vor Selbstverlust und Fragmentierung in den Körper verschoben und dort als weniger bedrohliche hypochondrische Angst in Erscheinung treten. Aus einem diffusen, nicht greifbaren Erleben von Bedrohtsein wird mittels Verschiebung eine konkrete, lokalisierbare und kommunizierbare Furcht, z. B. eine Herz- oder Krebsphobie.
Ein anderes Beispiel wäre eine Frau mit heftigen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die als Mädchen vom eigenen Bruder, der zugleich ihr Beschützer gegen ihren gewalttätigen Vater war, sexuell missbraucht wurde. Diese unerträgliche Erfahrung musste sie völlig abspalten und verdrängen, um die Beziehung zum emotional überaus wichtigen Bruder aufrechterhalten zu können. Den Schmerz, die Angst und Schuldgefühle, die mit der Missbrauchserfahrung verbunden waren, verschiebt sie unbewusst auf den Geschlechtsverkehr mit ihrem Ehemann. In dieser Ersatzlokalisierung können die bedrohlichen Impulse und Affekte leichter kontrolliert und vermieden werden (z. B. durch Verweigerung des Koitus).

Dysfunktionalität der Verschiebung: 

Wie andere Abwehrmechanismen auch ist die Verschiebung i. d. R. mit einer Reduzierung des Angsterlebens verbunden. Je stärker der subjektive Entlastungseffekt z. B. durch eine phobische Vermeidung erlebt wird, desto wahrscheinlicher wird eine Fixierung auf diese "erfolgreiche" Bewältigungsstrategie. Häufig führt diese aber zu sekundären, z. B. sozialen und beruflichen Problemen und Nachteilen für den Patienten, die seinen Leidensdruck verstärken.     



Abwehrmechanismus: Verleugnung

Verleugnung (mittleres bis geringes Integrationsniveau)

Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Kernberg unterscheidet reifere und primitive Formen der Verleugnung. Die "reifere Form" komme als "Bestandteil des Mechanismus der Verneinung" vor. Der "Patient sagt beispielsweise, er wisse zwar, was sein Therapeut oder er selbst oder eine andere Person von einer bestimmten Angelegenheit halten könnten – aber dann verwirft er diese 'Denkmöglichkeit' sogleich wieder als reine Spekulation. In diesem Fall ist die emotionale Bedeutung des Verleugneten dem Patienten noch nie bewusst geworden und bleibt auch verdrängt." Bei Borderline-Patienten seien "primitive Formen von Verleugnung" und insbesondere "die wechselseitige Verleugnung zweier emotional gegensätzlicher und verselbstständigter Bewusstseinsbereiche" typisch. Die "Verleugnung dient hier gewissermaßen nur zur Unterstützung eines Spaltungsvorgangs. Der Patient ist sich zwar im Klaren darüber, dass seine momentanen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle in Bezug auf sich selbst oder andere Personen völlig im Gegensatz zu dem steht, was er zu anderen Zeiten wahrnahm, dachte, fühlte; aber dieses Wissen hat für ihn keinerlei emotionale Relevanz, es vermag nichts an seinen derzeitigen Gefühlen zu verändern. Zu einem späteren Zeitpunkt kehrt er womöglich wieder zu seinem vorigen Ich-Zustand zurück und verleugnet dann den jetzigen, wobei wiederum das Wissen darum intakt bleibt, der Patient aber überhaupt nicht in der Lage ist, diese beiden Ichzustände emotional miteinander in Verbindung zu bringen."

Kernberg nennt noch "eine Zwischenform der Verleugnung, die ebenfalls bei Borderline-Patienten sehr häufig vorkommt, nämlich die Verleugnung bestimmter Emotionen mit Hilfe anderer entgegengesetzter und im Moment dominierender Emotionen", z. B. "die manische Verleugnung einer Depression".[15]   


Funktion der Verleugnung: 

Im Zustand der Verliebtheit besteht eine natürliche Tendenz, alles, was den schönen Zustand stören könnte, auszublenden. Ein gewisses Maß an gesunder Verleugnung kann auch das langjährige Zusammenleben erleichtern – nach dem Motto von Nossrat Peseschkian: "Vor der Ehe halte beide Augen offen, in der Ehe stets eins geschlossen." Insbesondere Menschen mit einem abhängigen Persönlichkeitsstil neigen dazu, alles zu ignorieren, was die Bindung zu wichtigen anderen gefährden könnte (z. B. negative Eigenschaften der wichtigen anderen, eigene autonome und/oder aggressive Impulse). Die primitive Form der Verleugnung dient nach Kernberg dazu, "die Abwehrposition des Ich gegen einen bedrohlichen Anteil des Selbsterlebens zu stärken". Laut Mentzos kann der Patient "mit Hilfe der Verleugnung vorübergehend sein bedrohtes Selbstwertgefühl schützen".


Dysfunktionalität der Verleugnung: 

Verleugnung geht mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Verzerrung der Realität einher. Das werden v. a. in den primitiven Formen der Verleugnung, z. B. beim Liebeswahn, deutlich: Hier wird das offensichtliche Fehlen der Gegenliebe von Seiten der/des Geliebten oder sogar ihre/seine klaren Signale von Bedrängnis oder Bedrohung völlig ausgeblendet. Auch das von Kernberg beschriebene Verleugnen abgespaltener, dem aktuellen Ich-Zustand entgegengesetzter Affekte kann für das Gegenüber äußerst belastend sein und den Bestand von wichtigen Beziehungen gefährden.



Abwehrmechanismus: Verdrängung

Verdrängung (gutes bis mäßiges Integrationsniveau)


Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Verdrängung wird gelegentlich als Überbegriff für alle Abwehrmanöver bezeichnet, die Konflikte unbewusst machen. Im engeren Sinne versteht Mentzos unter Verdrängung "die Amnesie (Erinnerungslücke) oder die Skotomisierung, das 'Übersehen' bestimmter Inhalte".[12]Die verdrängten konflikthaften und angstbesetzten Inhalte und Affekte – oft sexuelle oder aggressive Impulse – führen ein Schattendasein im Unbewussten, sind aber zugleich psychodynamisch höchst wirksam. Das Verdrängte kann später – oft in entstellter Form und gegen den Willen des Betroffenen – wieder ins Bewusstsein treten. Beispielsweise kann sich ein vergessenes peinliches Erleben und der dahinterstehende erotische Wunsch in Form einer sprachlichen Fehlleistung (z. B. einem ungewollten Versprecher wie "Schwein" statt "Schein") Eintritt ins bewusste Erleben erzwingen. Ein anderes Beispiel wäre ein auffallendes (Konversions-)Symptom wie ein Schwächeanfall in großer Gesellschaft, der den verdrängten Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, symbolisch Ausdruck verschafft. Nach der klassischen Theorie werden vor allem Triebregungen verdrängt, die das unter dem Druck des Über-Ich stehende Ich nicht akzeptieren kann. Harald Schultz-Hencke sah weniger in der Verdrängung von Triebregungen die Ursache für Neurosen als vielmehr in einer erziehungs- und kulturbedingten Hemmung von natürlichen "expansiven" Antrieben (Haben- und Behaltenwollen, Geltenwollen, Drang nach Sexualität und Zärtlichkeit).

Funktion der Verdrängung: 

Mittels Verdrängung kann sich das Ich gegen das Bewusstwerden bestimmter Motivationen und Konflikte sowie gegen mit ihnen verbundene bedrohliche Gefühle wie Schuld, Scham oder Kränkung wehren und schützen. Damit fungiert die Verdrängung als wirksamer Reizschutz nach innen. Ein gewisses Maß an Verdrängung ist wahrscheinlich notwendig, damit wir ausreichend innere Konsistenz und Kohärenz erleben und psychisch funktionieren können.  

Dysfunktionalität der Verdrängung: 

Die Verdrängung ist, wie andere Abwehrmechanismen auch, das Gegenteil eines bewussten Triebverzichts oder einer bewussten Steuerung von Impulsen und Affekten. Sigmund Freud glaubte, dass die "Triebrepräsentanz sich ungestörter und reichhaltiger entwickelt, wenn sie durch die Verdrängung dem bewussten Einfluss entzogen ist. Sie wuchert dann sozusagen im Dunkeln und findet extreme Ausdrucksformen, welche, wenn sie dem Neurotiker übersetzt und vorgehalten werden, ihm nicht nur fremd erscheinen müssen, sondern ihn auch durch die Vorspiegelung einer außerordentlichen und gefährlichen Triebstärke schrecken"[13]. Anna Freud sah die Verdrängung als den wirksamsten und gefährlichsten Abwehrmechanismus an: "Die Abspaltung vom Ich, die sich durch den Bewusstseinsentzug für ganze Gebiete des Affekt- und Trieblebens herstellt, kann ein für allemal die Intaktheit der Persönlichkeit zerstören. Die Verdrängung wird dadurch zur Basis für die Kompromiss- und Neurosenbildung. (...) Sie leistet der Quantität nach mehr als die anderen Techniken, d. h.,  sie kann starke Triebregungen noch bewältigen, gegen die andere Abwehrversuche machtlos bleiben."



Abwehrmechanismus: Ungeschehen- oder Wiedergutmachen, magisches Denken und rituelles Handeln

Ungeschehen- oder Wiedergutmachen, magisches Denken und rituelles Handeln (mittleres Integrationsniveau)


Religiös motivierte Rituale haben nicht selten für die, die sie ausüben, den psychologischen Vorteil, sich nicht völlig passiv und hilflos irgendwelchen äußeren oder inneren Mächten ausgeliefert fühlen zu müssen, sondern (auch motorisch) aktiv etwas tun und – v. a. wenn eine magische Komponente hinzukommt – etwas bewirken zu können, z. B. eine Gottheit zu versöhnen und gewogen zu stimmen. Auch Zwangshandlungen werden psychodynamisch u. a. damit erklärt, dass sie einem magischen und rituellen Zweck dienen. Durch an sich unsinnige Handlungen, die aber mit ritueller Notwendigkeit und Regelmäßigkeit ausgeführt werden, sollen unbewusst – so die Theorie – schuldbesetzte Fantasien, Impulse oder Handlungen ungeschehen oder wiedergutgemacht werden.

Funktion von Ungeschehen- oder Wiedergutmachen, magischem Denken und rituellem Handeln: 

Zwangshandlungen sollen aus psychodynamischer Sicht v. a. ein übermächtiges und rigoroses Über-Ich (nach Schultz-Hencke die Verinnerlichung übermäßiger erzieherischer Härte) beschwichtigen. Wenn sich der Zwangsneurotiker 25-mal am Tag die Hände wäscht, kann er sich vorübergehend von Schuld reingewaschen fühlen und seine Angst, z. B. vor Strafe, mildern.

Dysfunktionalität von Ungeschehen- oder Wiedergutmachen, magischem Denken und rituellem Handeln: 

Abgesehen vom Eindruck zeitraubenden Unsinns belasten Zwangsrituale oft die Gesundheit (ständiges Händewaschen kann z. B. zu einem Kontaktekzem führen) sowie die sozialen und Arbeitsbeziehungen des Patienten. Im Extremfall engen sie das Denken und Handeln so stark ein, dass die Anforderungen des Alltags nicht mehr bewältigt werden können.  

Abwehrmechanismus: Spaltung

Spaltung (geringes Integrationsniveau)

Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten  Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher Psychologen Verlag, Berlin

Der Mechanismus der Spaltung beschreibt nach Kernberg eine Abwehr, bei der das Selbst und das äußere Objekt nicht mit ihren guten und schlechten Merkmalen, sondern einseitig als nur gut oder nur böse erlebt werden. Durch Spaltungsvorgänge wird vermieden, dass emotional miteinander unvereinbare Inhalte zusammentreffen. Die Inhalte bleiben – anders als im Fall der Verdrängung – bewusstseinsnah. Beispielsweise kann es einem Patienten auf der kognitiven Ebene durchaus bewusst sein, dass die totale Abwertung seiner TherapeutIn in der letzten Sitzung im Widerspruch steht mit seiner starken Idealisierung derselben TherapeutIn in der aktuellen Stunde. Aber emotional empfindet der Patient dabei keinerlei Dissonanz. Als "abgespalten" werden auch grundlegende Antriebe, Bedürfnisse, Affekte und Erfahrungen bezeichnet, die in der frühen Kindheit nicht bewusst werden durften, weil sie die ohnehin unsichere Bindung an dringend benötigte primäre (Selbst-)Objekte wie z. B. einen Elternteil gefährdet hätten. Der Hass auf den Elternteil musste ebenso abgespalten werden wie das durch diesen Elternteil chronisch frustrierte Bedürfnis.

Funktion der Spaltung: 

Der Abwehrmechanismen der Spaltung erlaubt, zwischen der Bewertung eines Menschen als gut und der Bewertung desselben Menschen als schlecht – je nach innerpsychischem Bedarf – rasch hin- und herzuwechseln, ohne dabei in einen inneren Ambivalenzkonflikt zu geraten. Der Vorteil für das Selbst ist ähnlich der zur Abwehr eingesetzten Introjektion: Durch Spaltung kann die Beziehung zu einer als Selbstobjekt benötigten Person aufrechterhalten und ein gutes oder sogar idealisierendes inneres Bild dieser Person von Kontaminationen frei gehalten werden. Wichtige Selbstbedürfnisse können so partiell befriedigt werden.

Dysfunktionalität der Spaltung: 

Die Spaltung oder Abspaltung ist keine reife Ich-Leistung im Sinne eines Triebaufschubs oder einer sublimierenden Triebverlagerung, sondern geht mit einer massiven Verleugnung grundlegender (Selbst-)Bedürfnisse und Affekte einher. Spaltung erfolgt – wie alle unreifen Abwehrformen – zulasten der Realitätsprüfung und zulasten der Kohärenz des Selbst.