Wendung gegen das Selbst, gegen die eigene Person, Autoaggression (mittleres Integrationsniveau)
Quelle: Boessmann, Remmers, 2016: Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch
fundierten Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische
Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken, Deutscher
Psychologen Verlag, Berlin
Wenn Aggression nicht nach außen, also auf die Person, die sie aktuell auslöst oder der sie in der Vergangenheit galt, entladen werden kann, so richtet sie sich nicht selten in autoaggressiver Weise nach innen. Die Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst wird durch ein strenges, rigides Über-Ich begünstigt: Die in der Gewissensinstanz verinnerlichten Normen verbieten die Äußerung aggressiver Impulse. Wenn sie dennoch aufkeimen, belegt sie das Über-Ich mit Schuld und fordert Bestrafung.
Funktion der Wendung gegen das Selbst:
Die Wendung gegen das Selbst hat – wie alle Abwehrmechanismen – Vorteile. Aggressive Impulse können beziehungserhaltend – also existenziell wichtige Selbstobjekte schützend und sichernd – unschädlich gemacht werden. Auch das Über-Ich ist beschwichtigt: Der hasserfüllte Kampf gegen das böse Objekt findet nicht nach außen hin statt, wo er Schuldgefühle erzeugen würde. Als Variante von Autoaggression kann der Masochismus angesehen werden. Er geht mit einem eigentümlichen Lustgewinn einher, wenn der eigene Körper und/oder das eigene Selbst aggressiven Handlungen, Erniedrigungen und Kränkungen ausgeliefert werden. In sadomasochistischen Beziehungen werden nicht selten eine ungewöhnliche Nähe und Intensität erlebt. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass Paare, die sich auf ein sadomasochistisches Arrangement bewusst einlassen, zentrale, aber in den meisten Paarbeziehungen eher tabuisierte Dimensionen spielerisch ausleben können: Macht und Unterwerfung, Lust und Schmerz, Abhängigkeit, Scham und Schuld. Damit dieses "Spiel" nicht entgleist und einer der Partner oder beide beschädigt werden, müssen einvernehmliche Regeln vereinbart werden sowie fortwährend Reflexion und Kommunikation stattfinden.
Auch die religiös motivierte Autoaggression in Form von Selbstgeißelungen, v. a. die ritualisierte, an manchen Orten bei Prozessionen kollektiv und öffentlich zur Schau gestellte, lässt neben dem expliziten Ziel, Schuld zu tilgen, einen masochistischen und narzisstischen Lustgewinn vermuten.
Dysfunktionalität der Wendung gegen das Selbst:
Bei der Wendung gegen das Selbst entlädt sich der Hass nach innen, vorzugsweise gegen die Introjekte der bösen Aspekte geliebter Menschen. Das Selbst bestraft sich dabei gewissermaßen selbst. Klinisch kann sich der Abwehrmechanismus in vielfältiger Form zeigen: in subtiler Weise z. B. als Selbsteinschränkung und Selbstzweifel oder in massiver Weise z. B. als Selbstentwertung, Selbstbestrafung, Selbstsabotage, depressive Symptomatik, Somatisierung, Selbstverletzung oder Selbstmord. Die Wendung gegen das Selbst spielt u. a. bei ecclesiogenen Neurosen eine große Rolle. Häufig liegt ihnen eine einseitige Vermittlung biblischer Inhalte zugrunde, welche die zentrale christliche Liebes- und Erlösungsbotschaft an die Seite drängt oder deformiert und unerreichbare Ideale sowie Themen wie "Sünde", "Schuld", "Gottes Strafgericht" und "ewige Verdammnis" in den Vordergrund rückt.
Wenn oben bewussten Spielarten des Sadomasochismus innerhalb von Paarbeziehungen und in der Sexualität gesunde Funktionen, die sie unter günstigen Umständen haben können, zugestanden wurden, dann muss an dieser Stelle auch auf Risiken hingewiesen werden: Eine bestehende Beziehungspathologie kann durch die sadomasochistische Interaktion verstärkt oder überdeckt werden. Mitunter werden sadomasochistische Arrangements als unverbindliche und harmlose "Spielbeziehungen" angesehen; dabei wird geleugnet, dass das Experimentieren mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, mit Macht und Sichausliefern, mit Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung, mit Lust und Abhängigkeit usw. existenzielle Tiefenschichten der Seele berührt. Das kann zu vertiefter Selbst- und Beziehungserfahrung führen, aber auch zur Reaktivierung alter Traumen sowie zu Destabilisierung und Desintegration. Eine Form der Wendung von Aggression gegen das eigene Selbst kann darin bestehen, sich selbst – trotz besseren Wissens oder schlechter Erfahrungen – wiederholt nicht ausreichend zu schützen (was auch ein strukturelles Defizit sein könnte) und andere damit implizit zu verletzenden Grenzüberschreitungen einzuladen.
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